Annie Fischer - Bildgewebe

Annie Fischer - Texte

Annie Fischer - flecht:werk
Ausstellung im Kunstverein Kehdingen 19.9. - 24.10.2010
Einführung zur Eröffnung am 19.9.2010
©Jutta de Vries

Meine sehr geehrten Herren und Damen,
flecht:werk heißt diese außergewöhnliche Ausstellung nicht ohne Grund. Zum einen sagt sie etwas über die Art der Kunst: Flechten ist nämlich ein ganz solides Hand-"werk". Und bis ins 19. Jahrhundert hinein war jede Art von Kunst vor allem exzellentes Handwerk - Größen wie Michelangelo, Leonardo, Dürer oder Rembrandt haben sich so als Handwerker verstanden. Was die berühmten Künstler jener Zeiten von anderen, längst vergessenen Künstler-Handwerkern unterscheidet, ist einfach nur der göttliche Funke, den wir "Genie" nennen.
In der neueren Kunstgeschichte haben sich arrivierte Künstler weitgehend vom soliden Handwerk verabschiedet, versuchen es nur noch mit dem Genie und können mit ihren Botschaften durchaus erstaunliche Erfolge erzielen, so dass die traditionelle Definition von Kunst=Können=Kennen=List (ahd für Genie)=Lust (für Erkennen) nicht mehr zu greifen scheint.
In dem Zusammenhang erinnere ich Sie gern an das Zitat von Henri Ducasse, auch Comte de Lautréamont genannt, das sich auf der Einladungskarte befindet: "Schön...wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch". Dieses Zitat bezieht sich auf Dadaistische Arbeiten von Marcel Duchamp, der mit seinen Readymades ja nicht wirklich unter den Begriff des "Handwerkers" einzuordnen wäre.

Wir merken schon, das ist eine knifflige Sache, ein schmaler Grat seit der romantischen Überhöhung der gottbegnadeten Künstlerpersönlichkeit im späten 19. Jahrhundert, an dem sich die definierte Diskrepanz zwischen Handwerkskunst und Kunsthandwerk, zwischen Handwerk und Kunst, heute bewegt. Man stellt auch mit Erstaunen fest, dass im BBK-Verband nur wenige Regional-Gruppen Künstler und Künstlerinnen in ihren Reihen haben, die mit handwerklichen, gebrauchsgeeigneten Techniken und Werkstoffen arbeiten, wie Ton, Glas, Textil. Um so spannender finde ich, dass der BBK Stade-Cuxhaven gleich zwei Textilkünstler in seinen Reihen hat, und um eine von ihnen, Annie Fischer aus Schloß Holte-Stukenbrock, geht es heute in dieser Ausstellung.

Annie Fischer ist Weberin. Das Weben und Flechten ist ja eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit; die Archäologie findet Webgewichte aller Art seit dem Neolitikum, also seit ca. 10.000 Jahren, und das überall auf der Welt, auch in unserer Region sind gerade wieder, allerdings bronzezeitliche Webgewichte aus dem 7. Jh., in Stade-Hagen ergraben worden.

Das Weben hat auch Literaturgeschichte geschrieben: bei Homer hat Penelope mit ihrer Webarbeit und ihrer List die Freier hingehalten, bis Odysseus endlich zurück kehrte, Rapunzel macht aus ihrem Haar ein Flechtwerk für die Liebe, in der "Edda" und dann später in Wagners "Ring des Nibelungen" weben die Nornen, die nordischen Schicksalsgöttinen, das Schicksal der Menschen in die Seile, die das Universum halten, und daher ist im übertragenen Sinne "Weben" ein Ausdruck der Phantasie, der Erfindungsgabe, der Imagination - wobei das nicht nur positive Bedeutung hat - ich kann ja auch Lügengespinste weben oder mit meinen Phantasiegeweben in eine ferne, psychedelische Welt entschweben. Flechtwerke der Natur können in Windeseile Menschen Gemachtes überwuchern und dem Vergessen anheim stellen. Deshalb umgibt die Tätigkeit des Webens und Flechtens bis heute eine Aura des Geheimnisvollen.

Und übrigens - es sind in fernen Zeiten immer die Frauen, die weben - es ist eine der ihr in der Arbeitsteilung des Familienverbandes zukommende Tätigkeit. Das mittelalterliche Zunftwesen, zu dem die Frauen ja keinen Zutritt hatten, verdrängte sie aus diesem Kreis: lächelt man deshalb heute in Zeiten von Frauenpower so häufig über Frauen, die sich mit der Webkunst auseinandersetzen?

Zu allererst sind die Weberei und ihre Produkte aber schlicht und einfach für den Gebrauch im menschlichen Alltag bestimmt. Es handelt sich dabei um textile Flächengebilde aus zwei rechtwinklig verkreuzten Fadensystemen. Das geschieht mit Hilfe eines Holzrahmens, der die Kettfäden offen hält, damit der "Schuß&qout; vom Weberschiffchen gefasst, die Kette durchfließen kann.

Und auch hier hat über den schlichten Gebrauchswert eines anschmiegsamen Tuchs hinaus, das den Körper schützt, verhüllt und wärmt, die Erfindungsgabe und das Schönheitsbedürfnis der Weber zu immer wieder neuen Techniken und Mustern geführt, wie etwa die Gobelin- oder die Rya-Technik. Abhängig von der individuellen Farbwahl und den Garn-Materialien können außergewöhnliche textile Bildwerke entstehen, wie z.B. die großen Wandbehänge von Mittelalter bis Barock. Die sind dann natürlich nicht mehr zu "gebrauchen", sondern verstehen sich als völlig unanwendbar - außer man begreift sie als Kunst - der Begriff "l´art pour l´art" ist durchaus schon lange auch auf Textile Kunst anzuwenden.

Und genau so hat Annie Fischer es auch gelernt, mehrere Jahre lang in dänischen Webereien und im Design-Studium der textilen Formgebung an der FH Haandarbejdets Fremmes in Kopenhagen.
Zur Selbständigkeit als Bildgewebe-Künstlerin kam Annie Fischer erst später über den ungewöhnlichen Umweg eines abgeschlossenen Psychologie-Studiums und einiger Zeit der entsprechenden Berufsausübung. Der künstlerische Ruf war dann aber doch stärker - und nun ist sie auch einmal hier, Annie Fischer, im Kunstverein Kehdingen, mit ihren spannenden, raumgreifenden Arbeiten.

Die weisen längst über die Verarbeitung von textilen Materialien hinaus - Drahtmatten, Kunststofffasern, feinmaschiger Fliegendraht, Baustahl, Stacheldraht - aber auch Federn und Papierkordel finden neben Baumwoll-, Woll- und Seidengarnen das Interesse der Künstlerin.
Und besonders auffallend sind die Arbeiten mit dem Fahrradschlauch, zum Beispiel in der Installation "Wasserschaden": wie aufgeblähte Hohlfasern scheinen sie Fäden für Riesen zu sein und geben uns in ihrer tiefen Dreidimensionalität Vorstellungen von beweglichen Ungeheuern, die sich in den Raum ergießen wie Wasserfluten - damit ist eine vierte Dimension schon erreicht.

Die haptische, körperlich erfahrbare Dimension ihrer Werke ist Annie Fischer besonders wichtig. Diese "Fühl"-Ebene, die dann unversehens in eine "Gefühls"-Ebene beim Betrachter übergeht, erzielt die Künstlerin durch Kontrast: schon bei den Garnen ist eine Zusammenstellung von stumpfen (zB. Papiergarn) und glänzenden (Seide), feinen oder flauschigen Querschnitten und Oberflächen wichtig, die das Licht ja auf unterschiedliche Weise transportieren und Bewegung ins Gewebe bringen.

Wird dieses dann mit Materialien ganz anderer technischer Anwendungsgebiete in Zusammenhang gebracht und kombiniert, entsteht zunächst ein Riesenüberraschungseffekt. Wir schauen genauer hin und stellen fest, dass auch hier der Kontrast z.B. von hartem Metall zu biegsamer Textilfaser "Ariadne war farbenblind" oder vom verletzenden Stacheldraht zur weichen, schützenden Wolle "Keine Rose ohne Dornen" zum Prinzip der Spannung im Werk gehört - aber auch wieder erstaunlich ist, dass die artfremden Materialien im weiten Sinn auch alle etwas mit Gewebe zu tun haben, wie die Estrichmatten und Fliegengitter, oder sich als Faden-Substitut mit starker Sonder-Struktur verwenden lassen, wie etwa Rosshaar, Fahrradschläuche oder Kabelbinder. So verweigern sie sich dem Grundgedanken Weberei nicht, sondern fügen eine weitere Dimension hinzu.

Damit gelangen wir auf die Persönlichkeitsebene des Betrachtenden. Annie Fischer bringt es fertig, uns ein heiteres Lachen im Angesicht der Filz-Pommes und Bandnudeln, der marshmallows und Hirschgeweihe zu entlocken; die bunte, heitere "Woll-Lust" empfinden wir nach, weil sie kein bisschen schwülstig ist, wir freuen uns am Lichtspiel der Kabelbinder in Amöben und Sporen; sind bedrückt von der Vorstellung über alle die Dinge, die uns einfallen, über die viel mehr Gras wachsen müsste als es hier in der Installation geschieht, gruseln uns bei dem Leben aus Schläuchen, und kriegen eine Gänsehaut, wenn wir uns vorstellen, uns in den schicken Kimono mit Stacheldraht-Muster kuscheln zu sollen. Es ist interessant, dass wir über dem persönlichkeitsbezogenen Empfinden und der Freude am künstlerischen Erfindungsreichtum erst in einer zweiten oder dritten Betrachtung auch erkennen, welch exquisites Handwerk und welche sensible Form- und Farb-Gestaltung die solide Basis für Annie Fischers künstlerische Botschaft sind.

Annie Fischer schöpft da aus ihrer Kindheit, die sie in der Werkstatt des Vaters mit vielen Dingen spielen ließ - alles gab es zu entdecken, mit jedem Stoffrest, jedem Schräubchen, jedem Faden konnte Annie sich eigene Welten schaffen und tut es mit ihren phantasiereichen Kunstwelten bis heute.

"Kunst ist, was mich überrascht", so definierte Documenta-IX-Macher Jan Hoet den theoretischen Kunstbegriff. Hier in dieser überraschenden Ausstellung erleben Sie zur grauen Theorie die saftige Praxis, und dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!